Geschichten aus Bibliotheks- und Informationsmanagement

Von Fabian Boehlke

Hans saß in seinem Büro vor dem Laptop. Er war 66 Jahre alt. 66 Jahre und 301 Tage, um ganz genau zu sein. So sagte es die Strichliste in Hans‘ Kalender. 64 Tage noch, dann war sein 67. Geburtstag. Und dann konnte Hans endlich in den Ruhestand gehen. Das war gut so, denn er passte einfach nicht mehr in diese Zeit. Hans war nämlich Bibliothekar. Und der kahle, weiße und relativ kleine Raum, in dem sein Schreibtisch stand, war seine Bibliothek. An einer Stelle hing ein Bild, das Hans selbst einst mitgebracht hatte. In einer Ecke stand auf einem Tischchen seine Kaffeemaschine. Sonst gab es außer dem Schreibtisch und dem Bürostuhl nichts, nicht einmal einen Besucherstuhl. Aber wofür hätte Hans auch einen Besucherstuhl gebraucht? Besucher in den Bibliotheken gab es schon lange nicht mehr. Wozu auch? Die Bibliothek, die Hans als einzelner Mitarbeiter hier führte, war verbunden mit einem zentralen Server, der irgendwo in Deutschland stand. Der Digitalbestand des Servers konnte für das ganze Land genutzt werden. Die Nutzer griffen online von zu Hause darauf zu, nahezu alles lief automatisch. Fragen wurden längst von hochtechnischen Chatbots beantwortet. Hans‘ einzige Aufgabe bestand  darin, als menschliches Backup zu dienen, sollte irgendetwas nicht funktionieren, was aber so gut wie nie vorkam. Und auch diese Tätigkeit war nur noch von kurzer Dauer und beruhte auf den Klauseln seines Tarifvertrages im öffentlichen Dienst. Wenn Hans in guten anderthalb Monaten in den Ruhestand ging, würde ihm keiner mehr nachfolgen. Dieses Büro würde geschlossen werden und jede Menschlichkeit der vollautomatisierten und komplett digitalen Bibliothek weichen. 

Verträumt blickte Hans auf das einzige Bild in seinem Büro. Es zeigte ein Regal mit Büchern. Richtige und gedruckte Bücher aus Papier! Als Hans damals sein Bibliotheksstudium absolviert hatte, war er belächelt worden. Es sei ein Beruf ohne Zukunft. Wofür brauche man das denn noch? Physische Bibliotheken seien doch eh völlig überflüssig! Nicht lange danach war das Studienfach Bibliotheks- und Informationsmanagement an der Hochschule abgeschafft worden. Es gab mehr und mehr politische Beschlüsse, die Räumlichkeiten von Bibliotheken einzusparen. Den Kommunen und Bundesländern waren sie einfach zu teuer. Stattdessen setzte man voll und ganz auf E-Books und startete große Aktionen, um die vorhandenen Bestände zu digitalisieren. Die E-Books und Digitalisate sollten künftig deutschlandweit verwendbar sein, das sparte Kosten und Personal. Alles was gedruckt war, wurde nach dem Digitalisieren großzügig aussortiert, verkauft, verschenkt oder anderweitig verwertet.  

So war Hans einer der letzten Bibliothekare Deutschlands, und nicht lange nach ihm würde es diesen Berufsstand praktisch nicht mehr geben.  

In diesem Augenblick wurde Hans durch ein kurzes „Pling“ aus seinen Gedanken aufgeschreckt. Eine E-Mail war eingegangen. Das kam nicht häufig vor. Eigentlich nur, wenn ein Nutzer wirklich verzweifelt war. Denn in der Regel waren die heutigen Chatbots mit Hilfe von künstlicher Intelligenz in der Lage, fast alle Nachfragen problemorientiert und zielführend zu beantworten. Hans blickte in die E-Mail, aber anstatt einer sachlichen Anfrage erwartete ihn nur ein Wust an Beschimpfungen und unflätigen Beleidigungen. Von „Saftladen“ über „alle Bibliothekare sind Schweine“ bis hin zu „euch sollte man alle einsperren“ war alles dabei. Laut eigener Aussage war der besagte Herr „seit Stunden“ dabei zu versuchen, diesen einen Aufsatz herunterzuladen, aber immer wieder stürze das System ab. Hans kannte diese Art von Mails schon. Wo Bibliothekare in früheren Zeiten noch gefragt wurden, ob es zu diesem oder jenem Thema entsprechende Literatur gäbe, so war man jetzt nur noch die letzte Instanz, sollte die Technik komplett ausfallen. Und in diesem Stadium hatten die Nutzer üblicherweise schon alles probiert und waren in entsprechender Stimmung. E-Mails mit scharfem Unterton waren noch das netteste, was Hans zugeschickt bekam. Oft glichen die Nachrichten dem, was er heute bekommen hatte. In den meisten Fällen – und so war es auch diesmal – hatte es etwas mit technischen Problemen zu tun, die bei den Menschen selbst auftraten. Um ein Buch digital auszuleihen, mussten die Nutzer es im Katalog heraussuchen, auf „Ausleihe“ klicken und sich anschließend mithilfe der Smartwatch identifizieren. Und genau hier gab es immer wieder Probleme. Nicht selten war die W-Lan-Verbindung bei den Betreffenden zu Hause gestört, sodass die Verbindung zwischen Laptop und Smartwatch nicht zustande kam. Aber das herauszufinden, dazu war nicht jeder in der Lage. Und so schoben viele das lieber gleich auf die Bibliothek, das war einfacher und strengte den Geist nicht zu sehr an.  

Nachdem Hans die E-Mail – natürlich in sehr freundlichen Worten – beantwortet hatte, eine seiner wenigen Tätigkeiten, lehnte er sich in seinem Bürostuhl zurück und schloss die Augen. Wie schön waren doch die früheren Zeiten, als er noch ein junger Bibliothekar gewesen war. Seine Stadtteilbibliothek lag zentral am Marktplatz, nicht wie dieses sterile Büro, in dem er nun saß. Menschen gingen rein und raus. Es gab eine zentrale Auskunft und einen großen Lesesaal mit vielen Bücherregalen. In bunter Reihenfolge stand Buchrücken an Buchrücken. Es war möglich, die Bücher aus dem Regal zu ziehen, sie aufzuschlagen und das Papier zwischen den Buchdeckeln zu berühren. Beim Streichen über die Seiten war es feinen Händen möglich, die gedruckte Schrift zu erfühlen. Schon allein das Umräumen der Bücher brachte Spaß. Hans erinnerte sich an eine Situation an der Auskunft. Eine Nutzerin suchte ein Buch, einen dystopischen Roman. Bloß an den Titel könne sie sich nicht mehr erinnern. Im Gespräch am Auskunftstresen nannte sie ihm zahlreiche Details der Geschichte, während Hans auf seinem Computer die Katalogansicht aufgerufen hatte. In Frankreich spiele die Geschichte, es gab eine Präsidentschaftswahl, und der Ich-Erzähler habe immer über einen Autor philosophiert und zahlreiche seiner Zitate eingestreut. In diesem Falle konnte Hans sich sogar die Schlagwortsuche ersparen. Als begeisterter Leser brauchte es nicht viel, um auf den Titel „Unterwerfung“ des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq zu kommen. Eine kurze Katalogrecherche ergab, dass das Buch vorrätig und verfügbar war. Als zweites bat ihn die Nutzerin um ein passendes Buch zum Thema Stricken. Hier konnte Hans zwar nicht auf seine eigenen Erfahrungen zurückgreifen, jedoch war die Anfrage kein Problem für den Schlagwortkatalog. In Nullkommanix spuckte ihm das System zahlreiche Tipps aus. Erst kürzlich war ein neues Standardwerk zum Thema erschienen, quasi die neue Strick-Bibel. Die einzige Einschränkung: das Buch war nicht in der Stadtteilbibliothek vorhanden. Bisher war es nicht beschafft worden und auf der Erwerbungsliste stand es auch nicht. Für den jungen Hans war das aber kein Hindernis. Ganz im Gegenteil. Es spornte den jungen Bibliothekar erst recht an. Die Lösung lag in der Fernleihe. Im System konnte er feststellen, welche Bibliotheken im Verbund das Buch bereits hatten. Aber trotz Beschaffung war das Buch vielerorts nicht direkt verfügbar. Oft gab es Vormerkungen und Vorbestellungen. Doch schließlich, nach über einer halben Stunde, hatte er eine Bibliothek ausfindig gemacht, über die er das Buch ordern konnte. Bereits nach wenigen Tagen konnte die Nutzerin ihr Strick-Buch in Hans‘ Bibliothek abholen. Als die Dame das Buch in den Händen hielt, sagte sie: „Vielen Dank junger Mann, durch ihre Arbeit und Mühe bringen Sie etwas Freude in meinen tristen Alltag.“ Es war das erste große Lob, das Hans in seinem Arbeitsleben erhalten hatte, weshalb es ihm auch lange, bis heute, im Gedächtnis geblieben war. 

Ein erneutes „Pling“ riss Hans abermals aus seinen Gedanken. Wieder war eine E-Mail eingegangen. Zwei E-Mails am selben Tag, dachte Hans, das war ja schon richtig arbeitsreich heute. Er öffnete die elektronische Nachricht und staunte nicht schlecht. Zunächst einmal war die Mail freundlich geschrieben. Sie begann mit „Sehr geehrtes Bibliotheksteam“. In der Betreffzeile stand „Anfrage/Roman“. Eine Nutzerin schrieb, dass sie dringend Hilfe dabei benötige, ein bestimmtes Buch zu finden. In dem Roman ginge es um das Schicksal einer Familie, in der der Vater an einem neuen Virus erkrankt, während gleichzeitig die gesellschaftlichen Gräben immer größer wurden. Die Absenderin schrieb, sie habe diese Handlung in einer Buchkritik gelesen, könne sich aber nicht an den Titel erinnern. Und von den Chatbots bekomme sie keine hilfreiche Antwort. Jedes Mal nach Stellen der Anfrage lieferte der Bot nur Empfehlungen für medizinische Sachbücher. Hans war vielleicht alt und die Technik hatte sich weiterentwickelt. Aber den Schlagwortkatalog bedienen, das konnte er noch immer, selbst wenn dieses Instrument eigentlich seit Jahren außer Dienst gestellt war. In weniger als zwei Minuten hatte Hans den richtigen Roman gefunden. Das Buch „Covid – Nichts wird mehr, wie es war“ war schon vor einigen Jahren erschienen, weshalb es auch mit dem alten Katalog auffindbar war. Bei dem Buchtitel musste Hans an die Vergangenheit denken. Die Geschichte des Romans spielte während der Corona-Krise, die damals die ganze Welt in Aufruhr versetzt hatte. Ende zwanzig musste er damals gewesen sein, also war es gute 40 Jahre her. Mehrere Jahre hatte das Virus die Welt beschäftigt. Es war auch Hans‘ Studienzeit gewesen. Die Bibliothekswelt war damals noch in Ordnung. Es war aber auch die Zeit, in der viele Entscheidungsträger feststellten, wie viel einfacher und billiger die digitale Technik doch war weshalb in der Folge alle gedruckten Bücher digitalisiert und anschließend aussortiert wurden. Neue Techniken wurden entwickelt, welche auch die bibliothekarischen Tätigkeiten ersetzen sollten. Inzwischen hatte Hans das PDF des Romans heruntergeladen – zumindest das konnte er noch tun – und schickte es der Nutzerin zu. Das war zwar nicht ganz der korrekte Weg, aber wer sollte sich da noch beschweren. Die neuen und angeblich so großartigen Möglichkeiten hatten immer wieder ihre Tücken. Vor Fehlern war auch die beste Technik nicht gefeit. Und auch nicht alle Menschen kamen gleichermaßen damit zurecht. Besonders ältere Menschen, wie Hans’ heutige Nutzerin hatten immer wieder Probleme damit. Noch war Hans da, um notfalls eingreifen zu können, sollte die Technik mal nicht funktionieren. Doch das war bald vorbei, dann würde die Bibliothek für immer leer bleiben. Reguläre Bibliothekare wurden nicht mehr ausgebildet, die letzten verbliebenen in Deutschland gingen, wie Hans, bald in den Ruhestand. Dann waren die Bibliotheken endgültig menschenleer.  

Die Nutzerin hatte geantwortet, nachdem Hans ihr das PDF zugeschickt hatte. „Vielen Dank für das Zusenden“, schrieb sie, „ich freue mich schon sehr auf die Lektüre. Ich erlebe im Alltag nur noch selten etwas und mit diesen neuen Bibliothekstechniken finde ich mich nicht zurecht. Leider gibt es nicht mehr viele Bibliothekare wie Sie. Vielen Dank nochmal!“ Wieder ging einer von Hans‘ Arbeitstagen zu Ende. Anders als sonst war es ein guter Tag.