Geschichten aus Bibliotheks- und Informationsmanagement
Von Ivonne Böttger
Ein Praktikum im dritten Fachsemester – das war mir schon vor dem Studienstart klar. Immerhin tauchte es im Modulhandbuch auf. Doch wo ich es absolvieren sollte, das war die große Frage. Vor allem, da ich nicht unbedingt in eine Bibliothek wollte. Und überhaupt, sich schon im ersten Semester mit dem Praktikum zu beschäftigen, da haben doch die ganzen neuen Eindrücke Vorrang: Neu an einer Hochschule ankommen und dazu die anderen Studierenden (mit wenigen Ausnahmen) nur virtuell sehen. Sich mit Online-Plattformen und den Eigenheiten der Lehrpersonen herumschlagen, die genauso mit der Technik zu kämpfen haben – und schon rücken die Gedanken an das Praktikum in weite Ferne. Vielleicht wird es auch in ein späteres Semester verschoben aufgrund von Corona?
Doch spätestens mit den Infoveranstaltungen zum Praktikum wurde klar, dass dem nicht so war. Viele Fragen kamen auf – wo kann ich mein Praktikum überhaupt absolvieren? Ist es möglich, eine Stelle während der Pandemie zu finden? Und wenn ja, muss das Praktikum vielleicht wegen Corona abgebrochen werden?
Die Veranstaltungen lieferten eine Flut von Informationen, aber gaben auch erste Anreize. Das Praktikum muss nicht in einer Bibliothek absolviert werden. Immerhin. Eine öffentliche Bibliothek wäre ohnehin nichts für mich. Kundschaft kann anstrengend sein, das haben meine kurzen Ausflüge in die Arbeitswelt bewiesen.
Eine wissenschaftliche Bibliothek käme schon eher infrage oder doch lieber ein Archiv? War nicht sogar in einem Praktikumsbericht von einem Verlag die Rede?
Während es in der Infoveranstaltung im Dezember 2020 heißt, dass man sich noch etwas Zeit nehmen kann, war ich schon dabei, mich zu bewerben. Anfang Januar 2021 kamen dann die ersten Absagen. Die Plätze waren bereits vergeben, jemand war schneller gewesen. Zwei bis drei Monate, nachdem das erste Semester begonnen hatte. Großartig.
Also mussten andere Stellen her. Vielleicht schreiben die Einrichtungen auch gerade keine aus? Ich wühlte mich durch die Praktikumsberichte und schrieb so viele Bibliotheken an, wie ich im Hamburger Bibliotheksführer finden konnte, so dass ich komplett vergaß, mit wie vielen Einrichtungen ich den Kontakt bereits gesucht hatte.
Einige sagten sofort ab, auch der Arbeitgeber meiner Nebentätigkeit, bei dem sonst ein Praktikum möglich gewesen wäre. Grund: Corona. Andere konnten noch keine genauen Auskünfte geben. Warum? Wer hätte es gedacht: Corona. Von den meisten hörte ich jedoch nichts. Ein Vorstellungsgespräch gab es, ohne Erfolg. Jemand anderes hatte die besseren Karten. Und dann kam eine E-Mail. Formlos, kaum drei Zeilen. Rufen Sie mich bitte einmal an. Immerhin waren die Kontaktdaten in der Signatur zu finden. Hatte meine Suche tatsächlich ein Ende?
Ich hasse telefonieren. Ich kann mir nicht die Zeit nehmen, darüber nachzudenken, was ich sagen möchte. Dann dräut immer die Gefahr der Stille. Und ich kann mein Gegenüber nicht sehen. Dennoch rief ich an. Irgendetwas haben war zu diesem Zeitpunkt viel besser als gar nichts haben. Immerhin war es draußen schon richtig warm geworden. Nur noch wenige Wochen und die Vorlesungszeit des zweiten Semesters war vorbei.
Am anderen Ende meldete sich die Stimme einer älteren Dame.
Ich, in der Hoffnung, dass sie mich trotz Corona näher kennenlernen und mir einen Platz anbieten wollte, erklärte ihr, warum ich anrief.
Doch statt mir zu sagen, worin denn meine Aufgaben als Praktikantin bestehen sollten, erzählte sie mir von ihrer Tätigkeit und wie eintönig diese doch sei. Über meinen Anruf schien sie sich zu freuen, denn offenbar war ich die erste Person seit Langem, mit der sie über ihren Job sprechen konnte. Wie konnte ich das Gespräch wieder beenden?
Ich ließ sie reden, während sich mein Notizzettel mit Kugelschreiber-Kritzeleien füllte – bis sie endlich wieder auf mich und meine Absicht einging. Stimmt, da war ja noch meine Anfrage für einen Praktikumsplatz.
„Sie sind noch jung. Suchen Sie sich doch etwas Spannenderes!“
Und da war sie. Nur für einen kurzen Moment, doch der reichte aus: Die Stille. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hörte dieser Frau zu, wie sie über ihren Job jammerte, und dann… das? Warum hatte sie sich eigentlich die Mühe gemacht, mir den Dreizeiler zu schicken?
Ich versuchte mir irgendetwas aus den Fingern zu saugen. Warum hatte ich noch gleich diese Einrichtung angeschrieben? Was waren noch gleich meine Gründe gewesen? Ach ja, Hauptsache irgendeinen Praktikumsplatz finden. Aber das konnte ich ihr kaum erzählen. Stattdessen erwähnte ich, gern ein Praktikum in einer wissenschaftlichen Bibliothek absolvieren zu wollen – oder in einer Informationseinrichtung.
„Haben Sie es schon bei den Verlagen versucht? In Hamburg gibt es so viele davon.“ Sie nannte ein paar Namen. Doch diese hatte ich alle bereits angeschrieben oder sogar schon Absagen bekommen.
Nach einem weiteren Moment der Stille sagte sie schließlich: „Wenn Sie in ein paar Wochen immer noch nichts finden, können Sie sich noch einmal bei mir melden und wir finden schon was für Sie hier.“
Wir verabschiedeten uns und beendeten das Gespräch. Ich malte mir schon aus, wie sie dort in ihrem stillen Kämmerlein hockte und nichts anderes hatte als Bücher und weiteren Papierkram, der sich auf ihrem Schreibtisch stapelte, während sie gelangweilt vor dem Rechner saß und ins Leere starrte. Das würde sicherlich ein großartiges halbes Jahr Praktikum werden… Würde ich so enden wie diese Frau?
Ich gab die Hoffnung nicht auf, und zwei Wochen später hatte ich endlich einen Termin für ein Vorstellungsgespräch. Über Skype, denn es war ja immer noch Corona. Also schnell noch im Zimmer herumrücken, was nicht im Hintergrund zu sehen sein soll. Statt einer Dame im dunklen Kämmerlein unterhielt ich mit zwei jungen Frauen, die begeistert von ihrer Arbeit im Verlag sprachen. Sie zeigten mir Bücher aus dem Verlagsprogramm und verschwiegen auch nicht, dass sich der kleine Verlag Herausforderungen stellen musste.
Kurz nach dem Gespräch bekam ich die Zusage. Mein Praktikum konnte im Oktober starten. Nach monatelanger Suche neben dem üblichen Stress des zweiten Semesters stand also endlich fest, wo das Jahr 2021 für mich endete: In einem kleinen Verlag – und der Welt der Frakturschrift.
In den Wochen danach kamen noch ein paar wenige Mails, die mir dann doch eine Stelle anboten. Allerdings nicht von Frau Suchen-Sie-sich-doch-etwas-Spannenderes, dafür von Bibliotheken.
„Aufgrund des aktuellen Pandemieverlaufs haben wir uns dazu entschieden, Praktikumsplätze anzubieten. Haben Sie noch Interesse? Schicken Sie uns gern Ihre Bewerbungsunterlagen zu!“
Zum Glück musste ich das nun nicht mehr.
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