Geschichten aus Bibliotheks- und Informationsmanagement

Die Sehnsucht von Büchern umgeben zu sein

Von Lena Spieß

Er ist wieder zuhause. Zumindest körperlich. Der erste Abend, seit er von seinem Auslandspraktikum wieder zurück ist. Er kann immer noch nicht fassen, dass es wirklich schon vorbei ist. Felix bleibt unter einer Laterne stehen. Genau hier hat alles angefangen.  

In jener Nacht vor einigen Monaten war er gegen genau diese Laterne getreten. Sie wankte wie ein zu schnell eingestelltes Metronom. Das Licht flackerte und erlosch schließlich. Gerade hatte er noch in einem seichten Lichtkegel gestanden, jetzt umgab ihn die Dunkelheit der Nacht. Er blieb unter der erloschenen Laterne stehen und atmete die kalte Luft tief ein. Sie brannte in seiner Lunge. Der Schmerz ließ ihn für einen kurzen Augenblick alles vergessen.  

„Du musst was aus deinem Leben machen! Irgendwann musst du Geld verdienen.“ Die Stimme seines Vaters hallte in seinem Kopf wider. „Ich arbeite, seit ich 16 bin. Du musst irgendwann ein Mann werden. Wie willst du sonst mal eine Familie ernähren?“ Immer und immer wieder: Geld verdienen. Mann werden. Familie ernähren. Wie sollte er das jemals erreichen, wenn er seinen Platz noch gar nicht gefunden hatte? Wenn er nicht wusste, was er mit seinem Leben überhaupt anfangen sollte? 

Erneut trat er gegen die Laterne. In dieser Nacht beschloss Felix, zu fliehen. Egal wohin. Hauptsache weg. Und warum nicht jetzt? Jetzt, wenn er sowieso ein Praxissemester hatte. Weg von einem Zuhause, das sich nie wie eines angefühlt hatte. 

 

Inzwischen leuchtet die Laterne wieder. Und Felix wartet darunter auf seine beste Freundin.  

„Hey!“ Sie umarmt ihn zur Begrüßung. „Ich will jede Kleinigkeit wissen! Mein Sommer war so langweilig ohne dich.“ 

„Hey! Es ist so schön, dich endlich wieder live zu sehen und nicht nur auf einem Bildschirm.“ 

„Ja, ja, jetzt fang schon an! Was hast du erlebt? Wie war’s?“ 

„Am Anfang war’s echt schwierig…“, beginnt Felix zu erzählen. 

 

Warum hatte er nur gedacht, dass das eine gute Idee war? Er lief die O’Connell Street hinunter. Es regnete. Und die Menschen um ihn herum, die gerade noch lachten und fröhlich durcheinanderredeten, verloren ihre Farbe und wurden zu einer trüben, grauen Masse Am liebsten hätte er auf der Stelle angefangen zu weinen. Die Wahrheit war: Er fürchtete sich vor dem ersten Arbeitstag in der Bibliothek. Was erwartete ihn? Ob er als Praktikant überhaupt irgendeine Hilfe sein konnte? Was hatte er denn schon zu bieten?  Felix riss sich zusammen. Auf der O’Connell Bridge blieb er stehen und blickte stumm auf das Wasser, das unter ihm Richtung Irische See trieb. Durchatmen, Felix, sagte er immer wieder zu sich selbst. Eine Weile stand er einfach nur da, starrte auf das Wasser und ließ dieses Mantra durch seinen Kopf gehen. 

Es war früh am Morgen, als er vor der Bibliothek stand. Sein Herz pochte, als er die schwere, alte Holztür öffnete, die mit keltischen Schnitzereien verziert war. In dem kleinen Flur, der sich dahinter befand, stapelten sich endlos viele Bücher. Die Wände waren hinter Bücherregalen versteckt, die bis unter die Decke reichten. Neben der Garderobe stand eine fahrbare Leiter. Alles war aus Holz. Der Fußboden knarrte unter seinen Schritten. Niemand war zu hören oder zu sehen. Er blieb vor einer großen offenen Flügeltür stehen und spähte in den großen Raum, der sich dahinter verbarg. Die Dielen waren teilweise von alten Orientteppichen bedeckt. Wie im Flur erstreckten sich die Regale auch hier bis unter die Decke. Bücher reihten sich dicht and dicht, und es schien kein einziges mehr in ihnen Platz zu finden. Zwei Schreibtische waren vor die Fenster gequetscht 

 

„Guten Morgen. Wie kann ich helfen?“, ertönte eine Stimme hinter ihm und ließ ihn zusammenzucken. 

„Ich bin der Praktikant“, stammelte er.  

„Früh dran.“ Sie klang überrascht. 

Felix schwieg, also sprach die Dame weiter. 

„Ich bin Cianna Fitzpatrick. Aber du kannst mich ruhig Cianna nennen.“ 

„Felix.“ 

„Freut mich. Fionn, der Leiter der Bibliothek, kommt später. Er ist ganz umgänglich, wirst schon sehen. Ich zeig dir erstmal, wo du deine Sachen ablegen kannst und führ dich durch die Bibliothek. Dann sehen wir weiter.“ 

 

Felix versuchte, möglichst freundlich zu wirken. Doch sein Lächeln erreichte seine Augen nicht.  

Die Bibliothek war insgesamt nicht besonders groß. Sie war ebenso chaotisch und vollgestellt wie gemütlich. Felix liebte diese Art von Bibliotheken. Bibliotheken, in denen man sich noch wohlfühlen kann und ein Buch nicht nur ausleihen, sondern gleich lesen möchte. 

„Du kannst ja für den Anfang erstmal Signaturen auf die Karteikarten schreiben. Und wenn du darauf keine Lust mehr hast, dann kannst du diese Karteikaten alphabetisch sortieren.“ Cianna legte einen Karton mit Karteikarten auf den Schreibtisch, an dem Felix von jetzt an arbeiten sollte. 

„Aber du hast ja auch irgendwann andere Sachen gemacht. War da nicht diese Lesung? Warst du von der nicht richtig begeistert?“, unterbricht ihn seine beste Freundin. 

„Oh ja, das war ein lustiger Abend. Den werde ich so schnell nicht vergessen.“ 

 

Er schrieb gerade die Bücher, die am Morgen mit der Post gekommen waren, in das Neuzugangsbuch, als Fionn an seinen Schreibtisch trat.  

„Kommst du morgen Abend zur Lesung?“ 

„Das ist Arbeitszeit. Natürlich komm ich.“ 

„Du kannst auch einfach nur so kommen. Du musst nicht arbeiten.“ 

„Wenn ich eh da bin, kann ich auch helfen.“ 

„Willst du dann morgen später kommen oder zwischendrin länger Pause machen? Ich richte mich da ganz nach dir.“ 

 

Und so schlief Felix aus, kochte sich ein Frühstücksei und summte zu Springsteen und The Gaslight Anthem. Er suchte sich das schickste Outfit, dass er mitgenommen hatte. Dieses Mal, nach einem Blick aus dem Fenster, vergaß er auch den Regenschirm nicht. Doch selbst das unliebsame Wetter störte ihn inzwischen nicht mehr.  

Cianna und Fionn räumten schon die Tische zur Seite, als Felix die Bibliothek erreichte. 

„Felix? Hängst du noch die Plakate auf? Und wärst du so nett und kaufst noch zwei Flaschen Rotwein? Wir haben nur noch Weißwein da. Geld ist in der zweitobersten Schublade.“ 

„Mach ich!“ 

Und so war er den ganzen Nachmittag mit Vorbereitungen beschäftigt. Er durfte die Autorin vom Hotel abholen und ihr eine kleine Bibliotheksführung geben. Dann begann die Veranstaltung. 

„Sehr verehrte Damen und Herren, ich freue mich, dass Sie so zahlreich zu der heutigen Lesung erschienen sind. Natürlich freuen wir uns auch, dass Frau Montgomery heute aus ihrem neuen Roman liest. Erlauben Sie mir noch kurz, unserem Praktikanten Felix zu danken, der diesen Abend so wundervoll vorbereitet hat.“ Felix lief leicht rot an und blickte zu Boden. 

Ungefähr nach der Hälfte der Lesung ging Felix in einen Nebenraum, um zusammen mit Cianna das Buffet aufzubauen und die Gläser aufzureihen. Sie waren gerade fertig, als alle klatschten und Fionn zum geselligen Teil des Abends überleitete. Felix stellte sich neben die Gläserreihen. 

„Darf ich Ihnen ein Glas Wein anbieten?“ Eine ältere Frau war auf ihn zugekommen.  

„Gerne. Weiß, bitte. Und Sie haben das alles organisiert?“ 

„Ja, das war Teil meines Praktikums.“ 

„Das haben Sie sehr gut gemacht!“ 

„Dankeschön.“ 

Nachdem alle Gäste bedient waren, nahm auch er sich ein Glas Wein und mischte sich unter die Menschen. Um 22 Uhr baten Fionn und Cianna die restlichen Gäste höflich, aber bestimmt zu gehen und beschlossen, am nächsten Morgen aufzuräumen. Felix wankte ganz leicht, als er zur Tür hinaustrat. 

„Felix, wo musst du hin?“, fragte Cianna. 

„Zur O’Connell Street.“ 

„Dann können wir zusammen gehen.“ 

„Das klingt nach einem guten Abend. Hoffentlich verlier ich dich jetzt nicht nach Irland.“ 

„Quatsch! Auch wenn sie mich gerne noch länger dabehalten hätten.“ 

„Das hast du gar nicht erzählt.“ 

„Nicht?“ 

„Nein, mit keinem Wort.“ 

 

Seit Wochen war herrlichstes Herbstwetter. Die Sonne schien, die Bäume färbten sich in leuchtenden Gelb- und Rottönen. Langsam sammelten sich die bunten Blätter wie eine Decke auf den Wiesen und Wegen. Da, wo die Stadtreinigung bereits mit ihren Laubbläsern vorbeigekommen war, lagen kleinere und größere Laubhaufen, die Felix geradezu magisch anzogen, hineinzuspringen. Natürlich tat er es nicht. Er würde es ja auch nicht wollen, dass jemand in seiner Bibliothek die Loseblattsammlung in die Luft warf, nur weil es ein schönes Gefühl war, in einem Blätterregen zu stehen. Ja, genau: Seine Bibliothek. 

Felix trat, wie jeden Morgen in den letzten Monaten, durch die Tür und grüßte Fionn und Cianna, ging in die Küche, legte seine Sachen ab, packte sein Mittagessen in den Kühlschrank, schlüpfte in seine Hausschuhe und kochte sich einen Tee.  

Mit Tee an seinem Schreibtisch begann er mit der täglichen Arbeit. Neuzugänge ins System einarbeiten, Stichwörter und Signaturen vergeben. Er war gerade bei einem neuen Kinderbuch über Dinosaurier angelangt, als Cianna an seinen Schreibtisch trat. 

„Felix, kann ich dich noch um zwei Sachen bitten, bevor du uns bald verlässt?“ Sie machte eine kurze Pause, bevor sie weitersprach. „Du willst nicht doch noch länger bleiben? Du wirst uns ganz schön fehlen.“ 

„Natürlich. Was gibt’s?“ 

„Da du das mit dem Bibliotheksprogramm so gut verstanden hast – könntest du eine Anleitung für unsere zukünftigen Praktikanten schreiben? Du bist der Erste, dem ich das wirklich zutraue. Und wenn du damit fertig bist, könntest du vielleicht noch in der Didaktikabteilung aussortieren? Du hast kennst dich da mittlerweile einfach am besten aus.“ 

„Mach ich. Ich leg dir die Bücher, die ich aussortieren würde, dann einfach hin und du kannst dann entscheiden, ob du sie wirklich aussondern möchtest.“ 

„Brauchst du nicht. Leg sie einfach hinten im Büro auf einen Stapel, dann kann unser nächster Praktikant die aus dem System löschen.“ 

„Bist du dir sicher?“ 

„Ja, bin ich. Mach einfach. Ich vertrau dir.“  

Er lächelte und diesmal erreichte das Lächeln sogar seine Augen. 

 

In diesem Moment wurde ihm etwas klar, und es fühlte sich so selbstverständlich an, als hätte er es schon immer gewusst: Er hatte seinen Platz gefunden. 

Er hatte nie eine Heimat gehabt, sich nie irgendwo zugehörig gefühlt. War immer rastlos. Unruhig. Und immer auf der Suche, ohne genau zu wissen wonach. 

In dieser Bibliothek im Herbst kam sein Lächeln zum ersten Mal seit langem von Herzen. Seine Augen funkelten. Es war so banal. Aber gleichzeitig so eine allumfassende Erkenntnis: Hier war seine Heimat. Zwischen all den Büchern fühlt er sich wie er selbst. Und als sei das auch genau das, was er schon immer fühlen sollte. Er musste erst aufbrechen, um festzustellen, dass sein Platz kein bestimmter Ort war, sondern ein Gefühl: Die Sehnsucht von Büchern umgeben zu sein.