Geschichten aus Bibliotheks- und Informationsmanagement

Bibliotheken in 50 Jahren – Eine Science-Fiction-Geschichte

Von Michael Haring

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Erik betrat das Gebäude und sog die kühle Luft ein, die ihm entgegenschlug. An diesen heißen Sommertagen kamen ihm die Ausflüge in die Bibliothek seiner Stadt besonders gelegen, waren die Räume doch immer gut klimatisiert. Er war mal wieder auf der Suche nach Informationen für sein Studium, wie so häufig in diesem Semester. Mit einem freundlichen, aber kurzen Nicken ging er an der Empfangsdame vorbei. Er kannte seinen Weg. Im letzten Semester hatte er noch den Fehler gemacht, eher auf gut Glück in der Bibliothek auf der Suche nach einem Arbeitsplatz vorbeizuschauen. Oftmals blieben ihm dann nur die billigen Plätze auf dem Fußboden, weil die Arbeitsräume der Bibliothek bei Studierenden wie Erwerbstätigen heiß begehrt und häufig schon lange im Voraus ausgebucht waren. Menschen kamen hierher, nicht nur um Informationen zu beziehen, oder Medien auszuleihen, sondern auch um zu arbeiten, wenn das Unternehmen für den eigenen Arbeitsplatz aufgrund zu hoher Mietpreise keine Notwendigkeit mehr sah. Für den einfachen Angestellten blieb dann nur die eigene Wohnung, die aufgrund besagter Mietpreise bestenfalls Sarg-groß war und wenig Raum zum Arbeiten ließ, oder eben eines der öffentlichen Angebote wie hier in der Bibliothek. Erik hatte schon ein etwas schlechtes Gewissen dabei, jemandem diesen Platz streitig zu machen, aber auch er musste als einfacher Student zusehen, wo er blieb. 

Er folgte den Fluren vom Eingang weg, an dem Café und dem eher lauten Community Space der Bibliothek vorbei in Richtung seines ruhigen Arbeitszimmers. Heute würde er kaum Zeit dazu haben, sich mit seinem Reader noch ins Café zu setzen und mit den vielen Besuchern ins Gespräch zu kommen, die den Community Space der Bibliothek vor allem als sozialen Treffpunkt für Freunde, Kollegen und Bekannte nutzten. Heute musste er produktiv werden, wenn er den Termin für seine Hausarbeit einhalten wollte. 

Endlich hatte er seinen Raum erreicht und blieb vor der verschlossenen Tür kurz stehen, um dem Retinascanner Zeit zu geben, seine Identität zu bestätigen. In neueren Gebäuden lief so etwas normalerweise schon ohne Wartezeit ab; sobald man es betrat, wurde man fortan durch das gesamte Haus von Kameras und Sensoren getrackt und erhielt Zugang und Zugriff, wo auch immer man eine Freigabe hatte. Die Bibliothek war aber nicht ganz so modern ausgestattet. Erik vermutete dahinter Einsparungen, wie sie so oft im öffentlichen Raum vorgenommen werden mussten. 

Nach einigen Sekunden, die sich wie eine Ewigkeit angefühlt hatten, ging die Tür vor ihm endlich mit einem leisen Surren auf und eröffnete den Blick auf einen fensterlosen Raum, in dessen Mitte lediglich ein frei drehbarer Sessel als einziges Möbelstück stand. Erik trat ein, die Tür ging hinter ihm mit einem erneuten Surren wieder zu und für einen kurzen Moment schien der Raum in Dunkelheit zu versinken, bevor die nackten Wände mit einem Flackern zum Leben erwachten und mehrere, auf ihnen projizierte Texte, Videos und Bilder sichtbar wurden. Eine sanfte Stimme erklang, mit der Erik sehr vertraut war.  

„Hallo, Erik. Schön, dass du uns wieder besuchst. Seit deinem letzten Aufenthalt sind drei neue wissenschaftliche Publikationen zu deinem favorisierten Thema ‚Robotikethik‘ erschienen. Würdest du sie gerne jetzt gleich lesen oder lieber später?“  

„Später, LibriOS, danke.“ Erik war bewusst, dass er sich nicht bei einer KI zu bedanken brauchte, aber er war zu Höflichkeit erzogen worden, die sich nicht nur auf Menschen beschränkt. Nur eines der heutzutage viel diskutierten Themen im Umgang mit Robotern und künstlicher Intelligenz. LibriOS war so eine künstliche Intelligenz. Er bildete eine Schnittstelle zwischen den Nutzern und Nutzerinnen der Bibliothek und deren enormen Datenbanken. Das meiste Wissen in Bibliotheken findet man mittlerweile nur noch digital. Gedruckte Werke sucht man meist vergebens und findet sie am ehesten noch in Archiven. 

Erik griff in seine Jackentasche und zog seine Brille heraus. Die Kontrollleuchte des Bügels blinkte ein paar Mal kurz auf, dann hatte sie sich mit LibriOS erfolgreich verbunden. Erik setzte die Brille auf, und neben den vielen Anzeigen an den Wänden gesellten sich nun auch dreidimensionale Diagramme in der Mitte des Raumes dazu, sowie eine schlanke Gestalt in der hinteren Ecke: LibriOS, oder zumindest der Avatar, den Erik für ihn eingerichtet hatte. Jetzt, da die Augmented-Reality-Funktion seiner Brille aktiviert war, wischte er mit ein paar schnellen Handbewegungen das Hologramm vor ihm und einige der Texte an den Wänden fort und schaffte so Platz für seine neue Recherche. Er benutzte immer noch eine Brille, wie sie schon seine Eltern zu Studienzeiten nutzten, obwohl es bereits fortgeschrittenere Modelle gab, die auch als Kontaktlinsten getragen werden konnten. Als Student konnte er sich diese aber nicht leisten. Sein Geld reichte nicht einmal für eine eigene Brille. Er war auf die Ausleihe der Bibliothek angewiesen, die nicht nur Zugang zu Informationen bot, sondern auch technische Geräte, die für das alltägliche Leben heutzutage unabdingbar waren. So wie ihm ging es vielen. Kaum jemand, den er kannte, konnte sich noch Neuware leisten und der Second-Hand-Markt war fast genauso unerschwinglich. Den Geräten, die für Menschen wie ihn noch übrigblieben, sah man an, dass sie durch viele Hände gegangen waren. Daran, sich eine mehrfachgebrauchte Kontaktlinse einzusetzen, wollte er lieber nicht denken. 

Erik wandte sich wieder LibriOS zu. „Heute suche ich nach Informationen zu einem neuen Thema für eine Hausarbeit. Es geht um Arbeitsrecht kybernetisch veränderter Menschen.“ Ein weiteres heißdiskutiertes Thema dieser Tage. 

„Ich suche.“ erwiderte LibriOS. „Ich habe 20.374 Treffer in unserer Datenbank gefunden. Möchtest du deine Suche eingrenzen?“ 

„Ich interessiere mich speziell für Regelungen zur Elternzeit.“ 

„Deine erweiterte Suche ergab leider keinen Treffer, allerdings habe ich unter dem verwandten Suchbegriff ‚Urlaubsanspruch‘ 23 Treffer gefunden. Möchtest du sie sehen?“ 

„Bitte gib mir eine Zusammenfassung, worum es in diesen Texten geht.“ 

Erik hörte konzentriert zu, als LibriOS seiner Bitte nachkam. „Moment, was versteht man unter translokalen Neuroschnittstellen?“ LibriOS lieferte ihm augenblicklich eine Definition samt Quelle: eine oft zitierte Professorin, mit deren Arbeit Erik bereits einige Male zu tun hatte. „Das klingt schon mal nicht schlecht. Bitte stelle mir ein Dossier mit den fünf meistzitierten Texten der letzten drei Jahre zu diesem Thema zusammen.“ 

Nach wenigen Sekunden antwortete LibriOS. „Ich habe das Dossier erstellt und dir geschickt. Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“ 

Erik nahm am Rande seines Sichtbereiches das sanfte Blinken der Kontrollleuchte seiner Brille wahr und wusste, dass die Übertragung erfolgreich abgeschlossen worden war. „Danke, LibriOS, das wäre alles für heute. Wenn ich Zeit habe, komme ich diese Woche noch einmal vorbei. Halte bitte ein Auge offen für weitere Publikationen, die für das Thema interessant sein könnten.“ 

„Wird gemacht. Vielen Dank für deinen Besuch, Erik. Ich wünsche dir einen angenehmen Tag.“ 

Mit den letzten Worten der KI erloschen nach und nach die Anzeigen und Projektionen im Raum. Erik nahm seine Brille ab, verstaute sie in seiner Brusttasche und wandte sich zum Gehen. Die Tür öffnete sich vor ihm wieder mit einem leisen Surren und er trat zurück auf den menschenleeren Gang. Er überlegte, wie er die nächste Stunde noch nutzen würde, bevor er wieder zu Hause sein musste. Vielleicht könnte er doch noch einmal kurz ins Café schauen, um zu sehen, ob er nicht das eine oder andere bekannte Gesicht entdeckte.  

Halb gedankenversunken hätte Erik den brusthohen Roboter fast nicht bemerkt, der gerade auf dem Gang hinter einer Tür verschwand. Erik wusste, dass dem Anschein zum Trotz immer noch Roboter in der Bibliothek beschäftigt wurden, wenn auch eher hinter den Kulissen, beim Aufräumen zum Beispiel, oder als Assistenz für die Beschäftigten. Die Besucher sollen davon so wenig wie möglich mitbekommen, weil robotische Arbeitskräfte dieser Tage nicht mehr den besten Ruf genossen. Diesem Exemplar konnte man ansehen, dass es eine unschöne Begegnung mit jemanden gehabt haben musste. Das Graffiti und die Dellen am Torso waren immer noch sichtbar, auch wenn Erik die Schmiererei nicht entziffern konnte. Seit Wochen kam es immer wieder auf dem ganzen Kontinent zu Großdemonstrationen gegen die geplanten Reformen im Arbeitsrecht, was vielen Menschen zugunsten von Robotern und kybernetisch verbesserten Personen den Job kosten könnte. Nicht selten war es dabei gewaltsam zugegangen und auch heute Nacht wurde wieder mit Ausschreitungen gerechnet. Erik wollte definitiv zuhause sein, bevor die Hölle losbrach.